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Grundgesetz: Professor Ahnungslos vom RKI

Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass Brockmann am Robert-Koch-Institut die Projektgruppe P4 „Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten“ leitet. Im Ergebnis handelt es sich bei ihm also zweifellos um einen jener Experten am RKI, die von der Bundesregierung bei der Bewältigung der Corona-Pandemie zu Rate gezogen werden. Um so erstaunlicher ist es, welche Erklärungen er in dem Interview von sich gegeben hat, die juristisch betrachtet – gelinde formuliert – unhaltbar sind.

In dem Interview wird Brockmann unter anderem vorgehalten, dass Politiker und Juristen eine Beschränkung von Reisen auf 15 Kilometer als unverhältnismäßig kritisieren und dass es bessere, passgenauere Maßnahmen gebe, beispielsweise das Schließen von Skigebieten. Laut t-online antwortete Brockmann: „Ich lehne das Wort „unverhältnismäßig“ in diesem Zusammenhang ab. Da steckt ‚Verhältnis‘ drin. Das suggeriert, dass man Zahlen zum Zusammenhang zwischen Kontakten und Reisen kennt… Es gibt diese Daten nicht. Bisher wurde der Zusammenhang zwischen Reisen und der Anzahl der Kontakte nur wenig beziehungsweise unzureichend erforscht“.

Diese Aussage ist, wenn man ehrlich bleibt, ein geistiges Armutszeugnis. Es sollte jedem gebildeten Staatsbürger in Deutschland, auch Herrn Brockmann, mittlerweile klar sein, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Rechtssatz ist und nicht nur die Beschreibung eines mathematischen Zusammenhangs von Zahlen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat darüber hinaus – dieses Wissen kann man bei einem Physik-Professor wahrscheinlich nicht erwarten, sondern nur bei einem Juristen – nach jahrzehntelanger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsrang!

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt also immer und in jedem Zusammenhang, auch im Zusammenhang mit Corona. Brockmanns Satz: „Ich lehne das Wort ‚unverhältnismäßig‘ in diesem Zusammenhang ab“ ist folglich absurd und schlicht unvertretbar. Brockmann hat erkennbar von Grundrechten und vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz so viel Ahnung, wie ein Medizinmann aus dem Busch Kenntnis hat von moderner Herzchirurgie: nämlich gar keine. Sein Satz, er lehne das Wort „unverhältnismäßig“ im Zusammenhang mit Corona ab, ist etwa so richtig, wie wenn er gesagt hätte, dass er im Zusammenhang mit Corona die Beachtung von Grundrechten ablehne. Leider gibt das Interview Anlass dafür, genau das zu vermuten.

Im juristischen Sinne völlig unverhältnismäßig

Die Antwort von Brockmann ist auch in einem weiteren Punkt bemerkenswert. Denn aus seiner oben erwähnten Antwort ergibt sich, wenn auch von ihm unbeabsichtigt, dass die Anordnung einer Beschränkung von Reisen auf 15 Kilometer im juristischen Sinne völlig unverhältnismäßig ist.

Für alle juristischen Laien, zu denen erkennbar Brockmann sowie einige Ministerpräsidenten in Deutschland gehören, sei daher an dieser Stelle ein kurze juristische Einführung in den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegeben: Nach jahrzehntelanger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und aller übrigen obersten Bundesgerichte ist eine staatliche Maßnahme nur dann verhältnismäßig, wenn sie geeignet ist, das beabsichtigte Ziel zu erreichen, wenn sie erforderlich ist, um das beabsichtigte Ziel zu erreichen und wenn sie verhältnismäßig im engeren Sinne ist, also nicht gegen das Übermaßverbot verstößt.

Das beabsichtigte Ziel ist klar definiert: Eine Absenkung der Infektionszahlen zur Eindämmung der Pandemie. Ist eine Beschränkung von Reisen auf 15 Kilometer geeignet, um dieses Ziel zu erreichen?

Klare Antwort: Nein! Sogar Brockmann, ein Experte für „Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten“, erklärt selbst in seiner oben zitierten Antwort, dass es keine Daten gibt, die einen Zusammenhang zwischen Reisen und Kontakten belegen und dass diese gesamte Frage bisher nicht erforscht ist! Es fehlt also bereits an einem Nachweis, dass die beabsichtigte staatliche Maßnahme der Beschränkung der Reisen auf 15 Kilometer überhaupt geeignet ist, um das beabsichtigte Ziel zu erreichen. Zumindest die Geeignetheit einer Maßnahme muss aber zweifelsfrei feststehen, wenn sie als Rechtfertigung für einen Eingriff in Grundrechte herhalten soll. Von der Erforderlichkeit der Maßnahme (gibt es nicht tatsächlich weniger einschneidende und mildere Mittel?) und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (schießt man hier nicht deutlich übers Ziel hinaus?) braucht gar nicht mehr gesprochen zu werden. Sie liegen beide zweifelsfrei ebenso nicht vor.

Aus der eigenen Antwort eines Experten des Robert-Koch-Instituts ergibt sich also bereits, dass die Beschränkung von Reisen auf 15 Kilometer Entfernung im Rechtssinne völlig unverhältnismäßig ist. Die Bundesregierung bzw. die Landesregierungen haben insoweit auch keinen Beurteilungsspielraum mehr und keine Einschätzungsprärogative. Im Gegensatz zum ersten Lockdown im Früjahr 2020, als man über das Corona-Virus so gut wie nichts wusste, keine Masken und keine Impfungen hatte und man eine Pandemie mit Millionen von Toten allein in Deutschland befürchten musste, wissen wir heute eine ganze Menge über das Virus, haben Masken und Impfmittel und können auch mit Sicherheit sagen, dass keine Millionen von Menschen in Deutschland an Corona sterben werden.

Ein Akt der Willkür und bloßer Aktionismus

Da nach den eigenen Angaben des RKI-Experten Brockmann keinerlei Zahlen und keine Forschung dafür vorliegen, dass ein Zusammenhang zwischen Reisen von mehr als 15 Kilometern Entfernung und vermehrten Kontakten und Infektionen besteht, liegt das generelle Verbot von Reisen von mehr als 15 Kilometern Länge nicht mehr im Beurteilungsspielraum der Regierenden, sondern stellt einen Akt der Willkür bzw. bloßen Aktionismus dar.

Brockmann offenbart in dem Interview, aber auch ansonsten, eine – vorsichtig formuliert – sehr eigenwillige Sichtweise auf die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes. So erklärt er u.a.: „Generell gilt: Jede Reise, die nicht unternommen wird, schadet nicht“.

Diese Aussage lässt tief blicken. In der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist nämlich, was Brockmann offenbar nicht weiß, grundsätzlich erst einmal alles erlaubt, was nicht verboten ist. Das ergibt sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Der Staat darf nicht völlig willkürlich und nicht unverhältnismäßig irgendwelche Verbote erlassen. Vielmehr muss der Staat einen vernünftigen Grund vorweisen können, um in die Freiheit seiner Bürger eingreifen zu dürfen.

In einem freiheitlichen Rechtsstaat stellt sich also nicht die Frage, ob eine Reise „nicht“ schadet. Das ist eine Sichtweise, die in Diktaturen gehört. Sondern in einem freiheitlichen System ist die einzige Frage, „ob“ eine Reise schadet. Denn nur dann kann sie verboten werden! Sonst nicht. Die Denkweise, erst einmal prophylaktisch alles zu verbieten, was unter Umständen schaden könnte, gehört, wie bereits erwähnt, in Diktaturen, aber nicht in eine freiheitliche Demokratie.

Wenn es darum ginge, alles zu verbieten, was möglicherweise schaden könnte, müsste man nicht nur Reisen von mehr als 15 Kilometer Entfernung, sondern beinahe sämtliche Errungenschaften der modernen Gesellschaft verbieten. Hier nur einige Beispiele: Man müsste den Autoverkehr komplett verbieten, weil nachweislich durch den Autoverkehr jedes Jahr in Deutschland durchschnittlich mehr als 3.000 Menschen ums Leben kommen. Man müsste sämtliche Demonstrationen und den Zusammentritt des Bundestages verbieten. Überlegen Sie sich mal, welches Infektionsrisiko besteht, wenn sich 709 Abgeordnete des Bundestages bei den Debatten einfinden, dort Stunden lang debattieren und sich teilweise sogar lautstark beschimpfen. Man möchte gar nicht wissen, wie viele Aerosole und wie viele Tröpfchen dort umherschwirren und andere Menschen anstecken könnten. Und man müsste Computer und Internet – zumindest für die Allgemeinheit – verbieten, weil sie Strom benötigen, viel CO2-Ausstoß verursachen und von „schlechten“ Menschen missbraucht werden.

Das Modell der vorbeugenden Inhaftierung

Eine solche Herangehensweise, alles zu verbieten, was möglicherweise gefährlich werden könnte, wäre auch im Strafrecht interessant. Wenn jemand beispielsweise schon viermal rechtskräftig wegen Diebstahls verurteilt wurde, müsste er beim fünften Mal ohne Wenn und Aber – auch ohne komplizierte und mühevolle Gerichtsverhandlung – sofort eingesperrt werden. Denn er könnte ja möglicherweise wieder stehlen gehen. Und eine solche Prognose wäre statistisch nicht einmal von der Hand zu weisen. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass jemand, der ein bestimmtes Verhaltensmuster erlernt hat und mehrfach einschlägig zuvor verurteilt wurde, auch in Zukunft mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit wieder eine solche Straftat begehen wird als ein unbescholtener Bürger aus der Durchschnittsbevölkerung.

Das Modell der vorbeugenden Inhaftierung hatten wir übrigens schon einmal in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Damals wurden auch missliebige Personen ohne Gerichtsverhandlung in „Schutzhaft“ genommen, weil angeblich die Gefahr bestand, sie könnten weitere Straftaten begehen oder dem System gefährlich werden.

Dieses drastische Beispiel zeigt, wie absurd eine solche Denkweise ist, prophylaktisch alles zu verbieten, was gefährlich werden könnte, und dass diese Denkweise in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nach dem Grundgesetz nichts zu suchen hat. Die Tatsache, dass Brockmann anscheinend nicht viel von Freiheit hält, wird auch noch an einer anderen Stelle des Interviews deutlich.

Auf das Ansprechen der Ein-Personen-Regel (dass sich also die Angehörigen eines Haushalts nur noch mit einer einzigen haushaltsfremden Person treffen dürfen), antwortet Brockmann:

„Das ist die sinnvollste Regel überhaupt! Es sprengt die Kontaktnetzwerke, zerstückelt sie. Das ist das wichtigste.“

Wenn man die Situation allein und ausschließlich unter dem Blickwinkel der Absenkung der Infektionszahlen betrachtet, hat Brockmann sicherlich recht. Aber mit einem freiheitlichen Staat, der seinen Bürgern Grundrechte, unter anderem das Recht auf Freizügigkeit und Berufsfreiheit garantiert, hat das nicht mehr viel zu tun. Außerdem blendet Brockmann die negativen Folgen solcher Beschränkungen einerseits für die Menschen und ihre Bedürfnisse, andererseits für die Wirtschaft, die unser aller Lebensgrundlage darstellt, völlig aus. Er orientiert sich leider völlig einseitig nur an dem Ziel, die Infektionszahlen zu senken.

Sofern man die Aussage von Brockmann zugrunde legen würde, nämlich um jeden Preis die Kontaktnetzwerke zu „sprengen“ und zu „zerstückeln“, läge die effektivste Bekämpfung der Infektionszahlen zweifellos darin, alle Deutschen, mit Ausnahme der Menschen in systemrelevanten Berufen, einzusperren und zu isolieren, entweder im Gefängnis oder in einem geschlossenen Krankenhaus oder bei sich zu Hause. Man müsste auf jeden Fall verhindern, dass sich noch eine nennenswerte Zahl von Menschen in Deutschland frei auf den Straßen bewegt. Vielmehr wäre es nach Brockmann sinnvoll, eine Friedhofsruhe herzustellen, bei der sich niemand mehr anstecken könnte. Das würde dann aber leider sehr den Verhältnissen in Nordkorea ähneln.

Von unserer Rechts- und Werteordnung keine Ahnung

Auch an einer weiteren Stelle wird Brockmanns problematisches Verständnis von unserer Gesellschaftsordnung nach dem Grundgesetz deutlich.

Er führt u.a. aus: „Wir brauchen einen System-Switch, glaube ich. Die Dauer des Lockdowns würde ich nicht mehr von einem Datum abhängig machen, sondern von der Inzidenz“.

Mit einem solchen Unterfangen hätten wir einen unbefristeten Lockdown (!), und die Bevölkerung dürfte sich in ängstlicher Neugier täglich die Inzidenzzahlen angucken, ob dort eine Besserung in Sicht ist. Auch das erinnert leider fatal an Diktaturen, die wir in Deutschland schon hatten, als beispielsweise während des Zweiten Weltkrieges die Menschen gläubig die Wehrmachtsberichte von den Geschehnissen an der Front hören oder während der Zeit des Arbeiter- und Bauernstaates die Erfolge der sozialistischen Wirtschaft in den Fünfjahresplänen zur Kenntnis nehmen durften. Beide Diktaturen waren nicht sehr menschenfreundlich und auf Dauer nicht erfolgreich. Sie dürften daher kaum als Vorbild für die Bewältigung der heutigen Aufgaben in der Bundesrepublik dienen.

Brockmann und andere „Experten“, zu denen anscheinend auch mancher Ministerpräsident gehört, mögen zwar viel über Corona und die Ausbreitung von Infektionen wissen. Von unserer Rechts- und Werteordnung nach dem Grundgesetz, zu der auch die Abwägung von Belangen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehören, haben sie aber offenbar keine Ahnung. Oder, was ebenso schlimm wäre, sie ignorieren sie, um die eigene Macht und das eigene Prestige zu bewahren.

 

Der Autor ist Richter an einem deutschen Gericht und schreibt hier unter Pseudonym.

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier




Gedanken zur Krise: Unzeitgemäßes zu Corona

Gäbe es noch winzige Zweifel, dass wir im postheroischen Zeitalter leben, wären sie durch die Eindrücke der letzten Wochen restlos beseitigt worden. Denn mit der heutigen panischen Grundhaltung zu einer medizinischen Krise hätten die Menschen im Zweiten Weltkrieg seelisch keine zwei Wochen Bombenalarm ausgehalten. Und 1917 wären die Kämpfe wohl um Monate vertagt, wenn nicht umgehend beendigt worden.

Darin mögen manche eine hoffnungsvolle alternativgeschichtliche Utopie erblicken. Nur sollte man nicht gleich ins Gegenteil verfallen und aus Angst vor dem Tode „kollektiven Selbstmord“ (Mikrobiologe Sucharit Bhakdi) begehen. Eben dies tun wir momentan, zwar nicht leiblich, aber was wir unserer Gesellschaft und Wirtschaft zumuten, bietet einen Vorgeschmack darauf. Und da wir bereits bei martialischen Vergleichen waren: Wenn Churchills England beanspruchte, durch Unerschrockenheit die Freiheit der Welt gerettet zu haben, könnte Boris Johnson durch eine (hierzulande medial unterbelichtete) Standhaftigkeit in dieser Frage der Welt einen vergleichbar couragierten gesundheitspolitischen Dienst leisten, sofern ihn öffentlicher Druck nicht noch zum gänzlichen Umfallen zwingt. Zumindest böte dies die singuläre, keineswegs zynisch ergriffene Chance, tatsächlich zu erfahren, wie hoch der Preis eines alternativen Umgangs mit derlei Seuchen tatsächlich ist.

Dabei verzichten wir besser auf ethische Fundamentalsätze, als da sind: Gegenüber dem unersetzbaren Wert eines Menschenlebens haben kommerzielle Argumente zurückzustehen. Denn erstens können wir nicht die Augen davor verschließen, dass bei diesem Krisenmanagement etliche Multimillionäre zu Lasten vieler ihre skrupellosen Profitinteressen einstreichen, und sollten daher genau beobachten, wer bei dieser gigantischen Vernichtung von Volksvermögen und dem Ruin zahlreicher kleiner und mittelständischer Existenzen gleichwohl verdient. Auch darf man sich jetzt schon auf die bösen Verteilungskämpfe „freuen“, die umgehend einsetzen, wenn im Rahmen von (mit hohen Steuern finanzierten) Wiederaufbauprogrammen Abermilliarden zunächst allen genommen und dann an die lautesten und potentesten Schreier umverteilt werden.

Noch wichtiger ist ein zweiter Punkt: Glaube man ja nicht, die jetzige Isolationspolitik koste keine Menschenleben! Hunderte von Millionen in aller Welt, darunter Kinder und Alte, werden auf einen Miniaturlebensraum beschränkt, seelisch über Monate durch Horrorbilder terrorisiert, als seien mittelalterliche Pestumzüge zurückgekehrt. Schüler erleiden erhebliche Bildungseinbußen. Neue Epidemie-Zuständigkeiten ohne Parlament und persönliche Zugriffsrechte werden vorbereitet. In Altersheimen und beim Betreuten Wohnen finden sich Menschen in den „Zellen“ ihrer Zimmer interniert, ohne Hofgang, wie er wenigstens Sträflingen noch zusteht. Welche seelisch belastende Freiheitsberaubung als Zwangsfürsorge!

Wird je ermittelt, welche Auswirkungen diese Zustände auf andere Gebrechen haben: Herz- und Kreislaufschwächen, in Krankenhäusern verhinderte (rechtzeitige) Behandlung weiterer Übel, die jetzt aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten? Nahezu für jedes altersbedingte Gebrechen ist Bewegung das A und O täglicher Therapie. Was richten wir stattdessen an? Führen Immobilität und mediale Angstkampagnen rund um die Uhr nicht gleichfalls zumindest mittelbar zu zahlreichen durch diese Art „Prävention“ bedingten Toten? Fließt jemals in die Bilanz ein, was wir an gesundheitlichen Kollateralschäden billigend in Kauf nehmen, während wir fast sämtliche nationalen Energien auf einen einzigen Krankheitstyp konzentrieren?

Und welche Naivität, zu glauben, dass die Zerrüttung einer (Welt‑) Wirtschaft ein ausschließlich ökonomischer Faktor wäre! Wird durch solche vernichtete wirtschaftliche Substanz nicht auch das dringend reformbedürftige Gesundheitssystem essentiell gefährdet? Sind zusätzliche (gewaltsame) soziale Konflikte nicht dadurch schon vorprogrammiert? Und ahnen diejenigen, die sonst ständig die Solidarität mit der ganzen Menschheit im Munde führen, nicht, wie sich Wirtschaftskrisen insbesondere für die Dritte Welt auswirken? Vermutlich mit sechs- bis siebenstelligen Letalitätsziffern.

In der gegenwärtigen Kontroverse um das richtige Vorgehen streiten als exemplarische Protagonisten die Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé gegen den Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg und den Hygienespezialisten Sucharit Bhakdi, wobei Erstere den Staat und die Blockmedien hinter sich haben, Letztere das alternative Internet und zum Beispiel den Psychologen Franz Ruppert, der das Ganze für eine Massenhysterie hält. Wir Nicht-Experten sollten also gänzlich schweigen. Aber manchmal lassen sich gerade aus der Distanz Plausibilitäten beurteilen oder anmahnen, dass die täglichen Schreckensbilanzen nicht allzu viel ausblenden. Bedacht sei zumindest dreierlei:

Erstens: Alle genannten Todeszahlen müssen sich vor dem Hintergrund der gut 25.000 Influenza-Opfer betrachten und relativieren lassen, die im Winter 2017/18 ohne öffentliches Getöse quasi abgehakt wurden. Die Menschen starben übrigens trotz partieller Impfung, adäquater Medikation und einer gewissen Teilimmunität.

Zweitens: Haben wir überhaupt valide Opferzahlen? Angelo Borrelli, Leiter der Zivilschutzbehörde Italiens, sagte immerhin (laut „Tagesschau“ vom 21.03.2020), dass sie bei der Bilanz „nicht unterscheiden zwischen Corona-Infizierten, die gestorben sind, und denen, die wegen des Coronavirus gestorben sind“. Das aber reduziert die Aussagekraft erheblich.In Deutschland sterben übrigens seit Jahren ohnehin rund 2.500 Menschen pro Tag. Welche Steigerung der Infektions- und Letalitätszahlen ergibt sich andererseits allein daraus, dass man nun plötzlich (Tote) vermehrt auf dieses Virus testet? Selbst bereits palliativ behandelte Tumorpatienten zählen als Corona-Tote, so sie einen positiven Abstrich haben. Die Infiziertenzahl allein sagt wenig aus. Wurden bei den ungewöhnlich hohen Sterbeziffern in Wuhan und Bergamo Spezifika berücksichtigt (Umweltbedingungen; Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems; spezifische Hygienebedingungen)?

Drittens: Welche Mortalitätsrate ergibt sich dadurch, dass die geschürte Panik eine (strukturelle) Überbelastung der Krankenhäuser zusätzlich fördert, die ihrerseits böse Folgen hat? Von (mittelfristigen) psychosozialen Schäden ganz abgesehen. Und so weiter, und so fort.

Das Generationenproblem

Man verkauft uns die jetzige Katastrophenpolitik als besondere Solidarität mit den Alten, wofür man sie jedoch fraglos neben den momentan zunächst betroffenen Jungen noch gebührend zur Kasse bitten wird. Wäre das der Fall – und ich sage es als Angehöriger des zur Risikogruppe gehörenden Jahrgangs 1946 –‍, kämen wir in Grenzbereiche, in denen man derartig hohe wirtschaftliche Opfer nicht mehr ohne weiteres annehmen, geschweige denn fordern darf. Zumindest nicht, wo ein Volk noch tatsächlich Gemeinschaft lebt. Wenn sich das erhöhte Altersrisiko bei solchen Epidemien also nur dadurch mindern lässt, dass man jeweils eine Wirtschaft verheert, stellt sich die Frage der (auch moralischen) Güterabwägung.

Die Form, in der sich unsere öffentlich-rechtlichen Hintertreppen-„Satiriker“ des Funkformats „Bohemian Browser Ballett“ dazu äußerten (die 65-plus-Generation könne ruhig dezimiert werden, da sie schließlich unseren Planeten „in den letzten 50 Jahren voll an die Wand gefahren“ habe), ist zwar schlicht peinlich. Viel berechtigter hätten sich diese staatsfinanzierten Schnösel, auf deren Empfehlung wir sonst leichten Herzens Billionen Euros für vermeintliche Klima-„Rettung“ verfeuern, einmal der gänzlich zerrütteten Demographie dieses Landes zuwenden sollen: das heißt der trendsetzenden Lebensführung ihrer eigenen Altersgruppe, die den Generationenvertrag unter Versorgungsgesichtspunkten längst gekündigt hat. Nur deshalb ist der Anteil der Alten in unserem Land so groß geworden, dass sich offenbar Politiker nicht mehr trauen, gegen deren Ängste eine der Gesamtheit dienende Politik zu machen. Dabei ist es (angesichts verbreiteter Hysterien gerade bei den weniger gefährdeten Jüngeren) nicht einmal ausgemacht, dass die regierungsgesteuerte Panik überwiegend aus den Reihen der Alten stammt. Als Folge sind jedenfalls jetzt schon bestimmte ungute Töne in Richtung der Alten vernehmbar.

Es hilft nichts. Wir müssen endlich wieder in der Realität ankommen und uns von Gaukeleien verabschieden, es gäbe für fast jede Krise Absicherungen und Sicherheit. Und sollte die Seuche tatsächlich so ansteckend sein, müssen wir da durch, und das Erreichen einer relativen „Herdenimmunität“ ist auf Dauer die einzig handhabbare Wirklichkeit, da wir schließlich mit ständig sich wandelnden Krankheitserregern konfrontiert sind. Das Hinausstrecken mag kurzfristig Krankenhausengpässe beseitigen, und nur das rechtfertigt partiell und äußerst kurzfristig exorbitante Maßnahmen für besonders Gefährdete. Aber gerade da, wo wir mit zweiten oder dritten Grippewellen rechnen, führt das zu Zeiträumen, die schlechterdings untragbar sind. Schließlich stellt Covid-19 ja nur eine Form potentieller Virenmutationen dar. Wir werden auch künftig mit vergleichbaren Attacken auf unsere Gesundheit zu kämpfen haben. Denn der totale Sieg über Epidemien ist eine Illusion wie diejenige vom ewigen Leben. Wollen wir also alle zehn Jahre aufs Neue die Weltwirtschaft ruinieren, bis jeweils aktualisierte Impfstoffe hergestellt sind?

Die Quarantänegesellschaft

So, wie die jetzigen Medien agieren, darf man sich totalitäre Kriegspropaganda vorstellen, das heißt Trommeln von morgens bis abends. In den Fernsehstudios der Talkshows geben Experten und bloß Prominente (wie kurioserweise der „Fernsehdoktor“) einander die (hoffentlich desinfizierten) Klinken in die Hand. Medizinische Medienstars werden geboren, denen eine Macht zuwächst wie früher nur Militärgouverneuren. Immerhin fällt auf, dass all diejenigen, die stets behaupteten, Angst sei ein schlechter Ratgeber, oder die Ängste von Alternativen geradezu für politkriminell oder unmoralisch hielten, plötzlich 24 Stunden am Tag Alarmsirenen schrillen lassen. Oder gilt wieder die Devise: „Was zugelassene Angst ist, bestimme ich“?

Kurios ist, dass auch in dieser Situation nicht auf die üblichen Agitationsmuster verzichtet wird. So hatte etwa der böse Trump zunächst alles falsch gemacht, als er die Grenzen des Landes sperrte. Anschließend lerne ich von der „Qualitätspresse“, dass die EU alles richtig macht, wenn sie etwas später das Gleiche tut. Solche feinen Differenzen hätte ich früher nicht begriffen, zumal ich noch in der von der Bundesregierung verkündeten Überzeugung lebte, dass sich Grenzen grundsätzlich nicht schließen lassen, ein Prinzip, nach dem man aktuell übrigens in bestimmten Migrantenfällen immer noch verfährt.

Der hiesige Virusalarm charakterisiert unsere politmediale Klasse im Kern, wobei die (soeben auf arg strapazierter Rechtsgrundlage etablierte) medizinische Notstandsdiktatur für eine Technokratie eigentlich den Idealzustand bildet. Wir haben eine atomisierte Gesellschaft, die sich nicht mal mehr in Kleingruppen versammeln darf und fast alternativlos der politmedialen Allmacht einer sogenannten Elite ausgesetzt ist. Die wieder verhängt Ausgangssperren oder überwacht per Handychecks deren Einhaltung. Furchtgesteuerte Massen wiederum folgen wie Lemminge, solange ihre Führungsfiguren als Retter erscheinen. Das Ganze löst sogar frühere parteipolitische Akzeptanzprobleme, insofern sich eigentlich längst diskreditierte Regierende (nach dem Muster Helmut Schmidts bei der Hamburger Flut) nun als Großheiler präsentieren können.

Und natürlich lassen sich auf diese Weise nicht nur medizinische Viren bekämpfen, sondern bei anderer Gelegenheit auch allerorten zu isolierende „Klimaleugner“ oder „Rechtsextremisten“, vor denen die Gesellschaft geschützt werden muss. Wer könnte sich im Zuge des großen Einigungsappells schließlich der Überzeugung widersetzen, dass jetzt ein Maximum an Prävention geboten sei? Man gewöhnt sich schnell an ein Quarantäne-Herrschaftsmodell: mit „Mutti“ am Krankenbett der Nation, Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang samt Einbläser‍(innen) als Gesinnungsvirologen sowie Papa Habeck in edler Sorge vor geistig Infektiösen, die seiner Klimareligion misstrauen. Und siehe da, für den unermüdlichen Kampf gegen rechts bleibt in unseren Blättern wenigstens als Thema Nummer zwei noch Platz. So erfährt man etwa von ausgewiesenen Politlinguisten, was ich früher für fast schon klinisch abstrus gehalten hätte, dass das Verb „ausschwitzen“ etymologisch von Auschwitz herrührt.

Äußerst praktisch ist natürlich auch, was bei solchem Nachrichtenfokus alles unter den Teppich gekehrt werden kann. Die Schuldenbremse ist Schnee von gestern. Für die zuvor bereits schwächelnde Wirtschaft entfällt die Verantwortung; das schluckt alles das Kausalitätsmonster Corona. Auch lässt sich unter dem Radar der Aufmerksamkeit etliches schnellstens erledigen: die Erhöhung der Rundfunkgebühr, die Diskreditierung des Bargelds wie ein paar weitere meinungsstrangulierende Verordnungen oder Verbotsmaßnahmen.

Zudem beruhigt, dass Horst Seehofer dem deutschen Volk jüngst versicherte, selbst im Zeichen von Corona bleibe der Kampf gegen Rechtsextremismus in seinem Visier. Auch der „Verfassungsschutz“ war nicht müßig, seinen Regierungsauftrag zur Zerstörung der einzig nennenswerten parlamentarischen Opposition zu leisten. Wie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, mit dem ja jetzt so vieles verglichen wird, arbeiten unsere Bürokraten selbst in solchen Tagen noch bienenfleißig daran, sogenannte Staatsfeinde auszumachen. Gelobt sei die Kontinuität einer unermüdlichen Bürokratie!

Nun, Meinungsfreiheit beziehungsweise offen-selbstkritische Medien werden demnächst wohl ohnehin nicht allzu groß geschrieben. Wer solche Verluste an Volksvermögen und ‑chancen zu verantworten hat, kann sich keine wirklich freie Ursachendiskussion leisten. Und wir dürfen uns in künftigen Debatten schon mal darauf einrichten, mit dem zumindest moralischen Straftatbestand der „Corona-Leugnung“ konfrontiert zu werden. Bereits jetzt unterscheiden unsere Mainstreammedien per Framing ja zwischen „seriösen Wissenschaftlern“ Marke Drosten und Verbreitern „wirrer Behauptungen“ à la Wodarg – ganz wie es das durchgespielte Szenario einer amerikanischen Pandemie-Übung zur Diskreditierung von Kritik empfahl.

Nach der Katastrophe

Einmal muss der ausgerufene Pandemie-Alarm, wenn nicht alles zu Scherben gehen soll, offiziell abgeblasen werden. Dann kommt die Stunde der Wahrheit einer schonungslosen Bilanz, für die wir uns weder ideologisch noch moralistisch verhärten sollten. Wer sich dann – und sei es besten Gewissens – Übertreibung oder Verharmlosung anlasten muss, wird an diesem Vorwurf ohnehin noch lange tragen. Schlimmer jedoch wäre eine unsauber-apologetische Aufarbeitung der Krise, sei es um eine Niederlage dieser Größenordnung nicht einzugestehen, sei es aus Furcht, von heute auf morgen vom medialen Volksfreund zum Volksfeind zu schrumpfen, sei es aus psychischer Unfähigkeit im Stimmungsorkan Befangener, die ja zuvor meist nur trieben, weil sie sich selbst getrieben fühlten.

Unser Volk hat jedoch ein Anrecht darauf, zu erfahren, ob diese administrative Vollbremsung unerlässlich war, die nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft böse zur Ader ließ, sondern zudem etliche Reserven verbrauchte, die man gerade für ein ohnehin überstrapaziertes wie reformbedürftiges Renten- und Gesundheitssystem hätte aufwenden müssen. Wir haben Anspruch auf ungeschönte Bilanzen, in denen alle relevanten Faktoren berücksichtigt sind, vor allem die Frage, ob in den Letalitätsziffern Corona Hauptursache oder nur Begleiterscheinung war. Wir werden Verlaufskurven und Hochrechnungen prüfen müssen unter Berücksichtigung von Gegenzählungen diverser Erkrankungen infolge der Quarantäne. Wo immer zu eruieren, sind Vergleichszahlen bei alternativem Krisenmanagement einzuholen. Und vieles mehr.

Es ist klar, welcher ungeheure psychische Druck auf Ärzten lastet, die mehrheitlich gewiss in bester Überzeugung warnten. Wie viele von ihnen werden der Versuchung entgehen, einen möglicherweise glimpflicheren als vorhergesagten Ausgang lieber als Präventionserfolg denn als Fehlprognose zu deuten, zumal wo hässliche Debatten und Wahlkämpfe drohen? Wer in Forschung und Gesundheitspolitik wird mit allen Konsequenzen bereit sein, wie Ödipus auch gegen sich selbst zu ermitteln, wenn schmerzliche Ergebnisse drohen?

Aber selbst wenn die Gesundheitspolitiker mit Grund ein positives Fazit ziehen dürfen: Wird man sich zur analytischen Klarheit durchringen, dass in absehbarer Zeit eine solche Schocktherapie den Völkern nicht nochmals auferlegt werden darf, ohne dass es in den ohnehin zerklüfteten Gesellschaften Europas zu blutigen Konflikten kommt? Ein Modell für künftiges Handeln kann dies jedenfalls nicht sein. Und für politisches Verhalten schon gar nicht, so groß die Versuchung sein mag, sich in der Krise den Part als „Lebensretter“ zu geben.

Gerade für Deutsche, bei denen es allzu oft scheint, sie hätten sich mehrheitlich das fürs Freiheitsbewusstsein zuständige Organ herausoperieren lassen, heißt es künftig, die durch Kollektivzwang geförderte Corona-Gesinnung schnell wieder aus den Köpfen zu bringen. Bis hin zu den makabren Praktiken, dass Todgeweihte nun aus Hygieneschutz ihre letzten Tage ohne adäquate Familienbegleitung verbringen müssen. „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, formulierte Schiller, was Brecht glaubte in ein „Das Leben ist der Güter höchstes“ korrigieren zu müssen: Dem muss man nicht folgen.

 

Anmerkung der EIKE-Redaktion:

Wir danken Herrn Prof. Günter Scholdt, em. Professor für Germanistik an der Universität des Saarlandes und Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Esass, für die freundliche Genehmigung, seinen Aufsatz in den EIKE-News übernehmen zu dürfen. Er erschien zuerst in „Eigentümlich frei“ am 30.März 2020. Für nähere Infos zu G. Scholdt (hier) seine Homepage. Seine jüngste Buchveröffentlichung erschien soeben in der Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn, unter dem Titel „Populismus. Demagogisches Gespenst oder berechtigter Protest“.

Anlässlich einiger Leserkommentare, welche sich nur auf Grund von Missverständnissen erklären lassen, bittet die EIKE-Readktion, folgendes sorgfältig zu beachten:

  1. EIKE bleibt durchaus „bei seinen Leisten“. Die politischen Begleiterscheinungen der realen Corona-Krise gleichen in maßgebenden Punkten nämlich denen der nur herbei geredeten Klimakrise. Und Klima/Energie sind maßgebende EIKE-Themen.
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