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KEINE BOMBE FÜR HITLER

Im Dezember 1938 entdeckte ein Forscherteam um den deutschen Chemiker Otto Hahn die Spaltung des Atomkerns. Bis dahin galt es als fait accompli, dass chemische Elemente wie Sauerstoff, Gold oder Schwefel in alle Ewigkeit genau das bleiben, was sie sind, nämlich Sauerstoff, Gold oder Schwefel. Gut, ihre Erscheinungsform mag sich ändern – Sauerstoff in der Luft beispielsweise ist etwas anderes als der im H2O, aber das ist nur eine Spielerei der Elektronen. In seinem Wesenskern, in seinem Atomkern, bleibt der Sauerstoff das, was er schon immer war.

Nun aber hatten die Forscher beobachtet, wie sich das schwere Metall Uran in andere Elemente verwandeln konnte, etwa in das leichtere Metall Barium und das Edelgas Krypton.

Als wäre das nicht schon der Sensation genug, so hatte man auch beobachtet, dass dabei das Millionenfache der Energie frei wird, die bei der Verbrennung von Kohle entsteht.

 

Die nukleare „Slot Machine“

Diese Spaltung des Atomkerns passiert allerdings nicht spontan. Man muss ihn dazu mit Neutronen beschießen; das sind die kleinen Teilchen, die ihrerseits Bausteine des Kerns sind. Woher soll man die nehmen? Wie es der Zufall will bleiben bei der Spaltung nun genau einige dieser Teilchen übrig, so zwei bis drei Stück jedes Mal. Die könnte man doch verwenden, um weitere Kerne zu spalten, oder?

Das wäre wie die ideale Slot Machine: Sie stecken oben eine Münze rein, und unten kommen jedes Mal zwei bis drei raus – garantiert. Die brauchen Sie jetzt nur wieder oben reinzuwerfen, und in kürzester Zeit sind Sie Millionär. Wenn Sie das nur schnell genug machen, dann gibt es eine regelrechte Geldexplosion. Und wenn man das mit dem Uran so machen würde, dann …

Langsam. Die Slot Machine schluckt nämlich nur 1-Euro-Geldstücke, spuckt den Gewinn aber auch in Form der geschmackvollen 2-Euro-Münzen aus. Da ist die Kettenreaktion dann schnell unterbrochen. Was jetzt? Sie holen Ihren besten Freund mit ins Team und schicken ihn mit einem Sack voller Zweier zum Wechseln in die Bank. Die Bank macht das ungern und nimmt hohe Kommission, und auch der Freund, dem Sie bislang blind vertraut hatten, verliert auf mysteriöse Weise bei jedem Trip zur Bank eine stattliche Summe.

Sie haben jetzt alle Hände voll zu tun, um überhaupt liquide zu bleiben. Aber Sie sind ja geschickt und motiviert, und  nach einiger Zeit haben Sie ein System, mit dem Sie die Maschine kontinuierlich mit Cash versorgen. Sie haben das erreicht, was die Atom-Ingenieure „Criticality“ nennen.

 

Ein nützlicher Moderator

In der Welt des Atoms sind die 2 Euro Münzen die schnellen Neutronen: Sie sind nützlich, aber irgendwie doch nicht. Die bei der Spaltung erzeugten Neutronen sind zu schnell, um weitere Kerne spalten zu können. Man muss sie abbremsen,  gewissermaßen erst zur Bank schicken, um sie weiter im  Prozess einzusetzen. Nichts leichter als das sagen Sie? Man kann Autos ja auch abbremsen, indem man diese Bodenschwellen quer über die Straße legt.

Nun gibt es viele Materialien, durch die man die Neutronen schicken kann, um sie abzubremsen. Das Problem ist, dass sie dann oft nicht mehr rauskommen. Sie werden absorbiert. Das wäre dann eine Bank, die 100% Kommission nimmt. Ein brauchbares Bremsmaterial, das noch Neutronen durchkommen lässt  – von den Fachleuten „Moderator“ genannt – ist beispielsweise Graphit, eine Variante des Kohlenstoffs.

 

Wettlauf der Genies

Jetzt wissen Sie mehr, als die Physiker 1938 wussten. Oben sind drei von ihnen abgebildet, zwei davon gute Freunde, etwa gleichaltrig. Bald würden sie sich, durch Politik entzweit, einen erbitterten, historischen Wettlauf liefern.

Der mit der hellen Jacke ist Werner Heisenberg, links neben ihm der Italiener Enrico Fermi, beide Jahrgang 1901. Denken Sie sich noch Albert Einstein als Gottvater dazu, dann haben Sie die heilige Dreifaltigkeit der Physik des 20. Jahrhunderts. Von Heisenberg stammt die Unschärferelation, von Fermi die Kernphysik und von Einstein die Relativitätstheorie. Ja, diese Auswahl der Götter mag willkürlich sein, etwa so als sollte man die drei besten Opernkomponisten aufzählen. Wen außer Wagner sollte man da noch nennen? Verdi und Puccini? Und was ist mit Rossini und Mozart?

Mekka der Physik war damals die Universität Göttingen, heute im akademischen World Ranking auf Platz 197. Dort hatte eine eingeschworene Gemeinschaft die nötige kritische Masse an Intelligenz, um die anspruchsvollsten Fragen zu lösen, die der Menschheit von der Schöpfung an den Kopf geworfen werden. Im Gegenstrom zu dieser internationalen intellektuellen Elite bewegte sich die deutsche Politik. Im Monat, in dem die einen die Kernspaltung entdeckten, organisierten die anderen die „Reichskristallnacht“. Und ein Jahr später tobte der Weltkrieg.

Die jüdischen Forscher emigrierten, meist in die USA. Wer alles das Land verließ, wäre die falsche Frage. Es waren die meisten. Unter denen, die blieben, war Werner Heisenberg. Er liebte sein Vaterland – er war Nationalist aber kein Sozialist – und er lehnte die Nazis ab. Fermi, mit einer Jüdin verheiratet, ging nach Amerika, ebenso Einstein und Oppenheimer.

 

Krieg und Physik

Es lag nahe, die gigantischen Energien, die mit der Kernspaltung verfügbar waren, nicht nur zivil, sondern auch militärisch einzusetzen. Für die nach Amerika emigrierten Physiker war es eine apokalyptische Vorstellung, dass Hitler in den Besitz von Atomwaffen kommen könnte. Eine nicht unrealistische Befürchtung, denn immerhin war deutsche Technologie damals ihrer Zeit voraus. Man entwickelte gerade die V2, die erste ballistische Mittelstreckenrakete, und den ersten „Düsenjäger“, die Me262.

Die einzige Antwort auf die nukleare Bedrohung war aus amerikanischer Sicht der Bau eigener Bomben. So schickten die emigrierten Forscher im August 1939 einen von Einstein signierten Brief an Präsident Roosevelt, der den Anstoß zum „Manhattan Project“ gab, dem amerikanischen Nuklearprogramm.

Zu dieser Zeit hatte man zwar die Vorstellung von nuklearen Kettenreaktionen, man hatte sie aber noch nie technisch realisiert. Dazu begann man nun mit dem Bau einer entsprechenden Maschine, einem „Kernreaktor“. Fermi leitete das Projekt. Man berechnete die notwendigen Dimensionen – ohne Computer, nur mit Papier, Bleistift und Rechenschieber – und kam dann zu einem Gebilde aus 50 Tonnen Uran und 300 Tonnen Graphit. Im Dezember 1942 fand in diesem Apparat dann die erste von Menschen gemachte nukleare Kettenreaktion statt. Es war der Beginn des „Atomzeitalters“.

 

Groves und Oppenheimer

Von einer Bombe war man aber noch Lichtjahre entfernt. Es war so, als hätten die Gebrüder Wright gerade den ersten Hüpfer über 100 Meter mit ihrem Flieger aus Holz, Leinwand und Draht vollbracht, und jetzt sollte eine Flotte strategischer B52-Langstreckenbomber gebaut werden.

Den Amerikanern gelang es. Bis zu 130.000 Menschen arbeiteten im Manhattan Project, die meisten ohne zu wissen, was sie da taten. Die Führung hatte ein ungleiches Paar inne: Robert Oppenheimer und Leslie Groves. Letzterer ein hemdsärmeliger Generalmayor und Ingenieur, ersterer der Innbegriff des sensiblen, asketischen Wissenschaftlers. Zusammen waren die beiden unschlagbar. Groves machte „Oppi“ einmal das Kompliment: Mit dem Kerl kann man sich über alles unterhalten – außer Sport. Gesprächsthemen, die Oppenheimer an Groves vermisst hat sind nicht überliefert.

Wie das Manhattan Project ausging wissen Sie: Sechs Jahre nach Einsteins Brief an Roosevelt explodierten die Atombomben über Japan – die ersten und bislang letzten in kriegerischem Einsatz.

 

Die deutsche Bombe

Trotz Emigration der intellektuellen Elite hatte Deutschland nach 1939 noch Gelehrte, die an Atomphysik interessiert waren und auch kompetent genug, um anspruchsvolle Forschung durchzuführen. Und auch sie versuchten, ihre „Uranmaschine“ zu bauen, eine Vorrichtung für nukleare Kettenreaktionen.

Heisenberg war die natürliche Autorität unter ihnen, hatte aber schlechte Karten bei den Nazis, nachdem er die Physik des Juden Einstein in seinen Vorlesungen verbreitet hatte. Es gab noch ein anderes Problem für ihn: Er war kein Experimentalphysiker. Er konnte die wildesten Gleichungen entwickeln und in sieben Dimensionen gleichzeitig denken, war aber kein Spezialist, wenn es darum ging Maschinen zu konstruieren.

Das wusste er selbst und holte sich einen gewissen Robert Döpel ins Team, um mit seiner Hilfe einen Reaktor zu bauen. Anders als die Amerikaner setzte man zum Abbremsen der Neutronen so-genanntes „schweres Wasser“ ein. Das kommt in der Natur vor: Pro Tonne normalen Wassers gibt es 100 Gramm davon. In einem Prozess, der enorm viel Elektrizität verbraucht kann das separiert werden. In Norwegen, das von der Wehrmacht besetzt war, stand so eine Anlage direkt neben einem hydraulischen Kraftwerk. Hier beschlagnahmte das Militär das schwere Wasser, wobei Kommandos der Alliierten und Norweger immer wieder heldenhafte Sabotage verübten – sie ahnten, was man mit dem Zeug vor-hatte.

 

Plutonium

Der Bau eines Reaktors, einer Uranmaschine, war zunächst nur ein „Proof of Concept“ der nuklearen Kettenreaktion, die Maschine selbst war keine Bombe. Eine Vorrichtung mit vielen Tonnen schweren Wassers und Uran kann von keinem Flugzeug abgeworfen werden. Und auch physikalische Gründe sprechen dagegen.

Aber wie es der Zufall will, so bildet sich beim Betrieb so eines Reaktors ein Material, welches auch ohne Moderator eine sehr schnelle Kettenreaktion ermöglicht: Plutonium. Sowohl in Deutschland wie auch in den USA hatte man das erkannt und man würde diesen Weg zum Bau der Bombe verfolgen – (wobei die Amis, sozusagen als zweite Option, die Herstellung hoch angereicherten Urans verfolgten; aber das ist eine andere Geschichte). Man versuchte also Reaktoren zu bauen, um in ihnen Plutonium zu produzieren.

Die von Heisenberg und seinem Team 1942 in einem Dresdener Labor gebaute Maschine aus Uran und schwerem Wasser brachte dann zwar eine Vermehrung der eingestrahlten Neutronen, unterhielt aber keine selbsttragende Kettenreaktion. Sie war ein Flop. Um den befürchteten alliierten Luftangriffen zu entgehen, zog man für weitere Experimente dann von Dresden nach Haigerloch in die erwähnte Schwäbischen Alb. Aber auch dort gelang es nie, eine funktionierende Uranmaschine zu bauen – kein Reaktor, kein Plutonium, keine Bombe.

 

Berlin ist nicht Manhattan

Das deutsche Atomprogramm war von Anfang an durch Zwietracht geprägt. Heisenbergs Gegenspieler – und Favorit der Nazis – war der Kernphysiker Kurt Diebner, der ein eigenes Programm leitete.  Aber auch abgesehen von politischer Polarisierung gingen verschiedene Forschungsgruppen eigene Wege. Die Institute waren kleine Königreiche. Es gab, ganz im Gegensatz zur USA, kein gemeinsames Management.

Die Wehrmacht finanzierte die Forschung, die Bombe stand aber nie ganz oben auf ihrer Wunschliste. Und auch die deutschen Wissenschaftler werden sich gefragt haben, was wohl ihr eigenes Schicksal wäre, wenn sie gigantische Mengen an strategischen Ressourcen für ihr Projekt beanspruchten, am Ende aber mit leeren Händen dastünden. Sie wollten ihre Existenz nicht auf eine einsatzfähige Atombombe verwetten.

Anfang 1942 entschied Albert Speer, der Rüstungsminister, dass eine eventuelle deutsche Atombombe auf jeden Fall zu spät käme, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen. Er stoppte die Arbeit daran, befürwortete aber Entwicklungen zur Erzeugung von Energie.

Es ist schwer vorstellbar, dass niemand in den USA vom Scheitern des deutschen Bombenprogramms wusste. Wie auch immer – falls Leslie Groves davon wusste, so hat er das Geheimnis jedenfalls für sich behalten, sein Manhattan Project hat er nicht gestoppt.  Der Besitz der Bombe versprach Amerika ja auch strategische Vorteile für die Zeit nach dem Ende des Krieges und die Oberhand bei der Schlacht im Pazifik.

Als die amerikanischen Truppen dann im April 1945 in die Labors in Haigerloch eindrangen, überzeugt von der technologischen Überlegenheit Deutschlands, da schallte ihnen gewissermaßen homerisches Gelächter entgegen. Es war so, als hätten sie riesige Bunker voller B52-Bomber erwartet und stattdessen stießen sie in einer Garage auf einen nicht flugtüchtigen Hängegleiter.

 

Wiedersehen in Farm Hall

Die zehn führenden deutschen Atomforscher wurden gegen Ende des Krieges gefangen genommen und in England auf dem Landsitz Farm Hall gemeinsam interniert. Die Männer, die sich in Deutschland aus dem Weg gegangen waren, fanden sich jetzt bei den britischen „Gastgebern“ vereint unter einem Dach. Was für eine Ironie des Schicksals.

Der britische Geheimdienst belauschte ihre Gespräche durch versteckte Mikrofone und spielte ihnen am 6. August 1945 die Radiobotschaft der BBC über den Abwurf der Hiroshima-Bombe zu. Diese Nachricht traf die Forscher selbst wie eine Bombe, und es ergab sich das folgende Gespräch:

Otto Hahn (Nobelpreisträger, Entdecker der Kernspaltung):„Eine außerordentlich komplizierte Sache … Wenn die Amerikaner die Uran-Bombe haben, dann seid ihr alle zweitklassig. Armer alter Heisenberg.“

Werner Heisenberg:„Haben sie das Wort Uran in Zusammenhang mit dieser Atombombe gebraucht?“

Otto Hahn: „Nein.“

Werner Heisenberg:„Dann hat es mit Atomen nichts zu tun.“

Es war wohl das einzige Mal, dass Heisenberg, Begründer der Quantenphysik, als zweitklassig betitelt wurde, aber Otto Hahn, damals 66, hat sich das dem 44-Jährigen gegenüber erlaubt.

Der Wortwechsel lässt vermuten, dass Heisenberg, und damit die deutschen Forscher überhaupt, zu der Überzeugung gelangt waren, der Bau einer Bombe sei unmöglich. Und ihre Einstellung wird gewesen sein, „Wenn wir es nicht können, dann können es die Amerikaner erst recht nicht.“ Während die Amerikaner dachten: „Wenn wir es für möglich halten, dann haben es die Deutschen schon gemacht.“

Es gab später viel Diskussion, ob die Physiker in Deutschland vielleicht das Ganze heimlich boykottiert hätten. Carl Friedrich von Weizsäcker, Bruder des ehemaligen Bundespräsidenten und guter Freund Heisenbergs vertrat diese Sicht der Dinge. Das wäre allerdings wenig vereinbar mit einem angeblichen Patent Weizsäckers in Sachen Plutoniumbombe.

https://www.welt.de/kultur/article121016703/Weizsaecker-und-sein-geheimes-Atombomben-Patent.html

Freunde und ich hatten in den 60ern als junge Studenten Kontakt zu einem damals in Farm Hall internierten Forscher. Er war jetzt Universitätsprofessor in Kiel und leitete den Bau des ersten deutschen atomgetriebenen Schiffs. Der ließ keinen Zweifel daran, dass kein Fünkchen Wahrheit an der Heisenberg & Co in den Mund gelegten Behauptung sei: „Wir hätten die Bombe bauen können, haben es aber aus ethischen Gründen verhindert.“

Man konnte es einfach nicht, man konnte nicht einmal einen Reaktor zum Laufen bringen.

 

Beim Rückblick auf diese Zeit drängt sich eine Frage auf

Wie kam Deutschland, ein Land mit solch brillanten Geistern, zu einer solch barbarischen Regierung? Wieso haben die intellektuellen Eliten, die Dichter und Denker zugelassen, dass Top-Universitäten, Rundfunk und Presse zu willfährigen Propagandaanstalten der Politik degradiert wurden?

Edmund Burke, der irische Philosoph und Zeitgenosse Goethes, hat eine Antwort:

Damit das Böse triumphiert, müssen die Guten nur tatenlos zusehen.

Das ist wohl eine zeitlose Feststellung.

Dieser Artikel erschien zuerst bei

www.think-again.org

und im Buch

https://think-again.org/product/grun-und-dumm/

 

 

 




Atomwaffen als Preis für Klimaschutz?

Nun hat er sich mit dem Artikel Wer sind wir, daß wir schwachen Nationen Kernwaffen vorenthalten, die sie für ihre Selbstverteidigung benötigen?und einer noch dolleren Fortsetzung Für Nationen die Kernenergie anstreben ist der Bau von Kernwaffen eine Fähigkeit und kein Fehler im Forbes-Magazin auf sehr abschüssiges Gelände begeben. In Anbetracht der großen Auflage und dem Bekanntheitsgrad des Autors kann man seine Thesen nicht unkommentiert lassen. Dafür wird einfach zu viel durcheinander gerührt. Der geübte Erzähler beginnt seinen Artikel mit der Schilderung einer Szene aus einem Hollywoodfilm, in der die SS brutal eine jüdische Familie im besetzten Frankreich abschlachtet. Er läßt seine Schilderung mit der selbst beantworteten Frage enden, warum sich die französische Familie überhaupt im Keller verstecken mußte: Sie hatten keine Abschreckung. Er spannt den erzählerischen Bogen weiter über den July 1942, in dem die kollaborierende französische Polizei fast 13000 Juden in einem Stadion zusammenpferchte und anschließend nach Deutschland deportieren ließ. Es folgt die Feststellung, daß von den fast 76000 französischen Juden die Gaskammern von Ausschwitz nur 2000 überlebt haben. Dramaturgisch geschickt, aber äußerst geschmacklos — wenn man erst einmal die spätere Gleichsetzung von Israel und Iran gelesen hat — kommt er zu seiner ersten These:

Die Atombombe als Waffe der Schwachen.

Wie hätte ein schwacher Staat wie Frankreich der 1930er Jahre die Ungleichheit gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland aufheben können? Durch den Besitz einer Waffe, mit der er ihre größten Städte hätte ausradieren können. Wow! Mal abgesehen, daß solche historischen Betrachtungen genauso sinnvoll sind, wie die Fragestellung, was wäre aus der Welt geworden, wenn die Saurier schon Konserven gehabt hätten, ist dies schon der erste Widerspruch in seiner gesamten Argumentation. Shellenberger hat die Nukleare-Abschreckung, wie sie z. B. im Kalten-Krieg vorlag, gar nicht verstanden: Sie funktioniert nur, wenn jeder genug Waffen hat, den Gegner auch dann sicher auszulöschen, wenn dieser bereits sein ganzes Arsenal abgefeuert hat (Zweitschlagfähigkeit). Nur in der Märchenwelt verfügt ausschließlich der Edle und Schwache über Schwert und Rüstung — was ihn automatisch nicht mehr schwach sein läßt. Solange also nicht jeder Staat über das Potential verfügt, die ganze Welt zu vernichten, gibt es keine funktionierende Abschreckung. Wer ist ernsthaft für solch einen Irrsinn?

Das ganze Vorspiel mit Frankreich bekommt plötzlich Sinn, wenn man die Überleitung mit Charles de Gaulle über die nukleare Bewaffnung von Frankreich liest. Shellenberger sieht sie als logische Konsequenz des Überfalls von Frankreich durch Deutschland. Aus dieser Position leitet er die vermeintlich unmoralische Haltung der USA 1962 ab: Das französische Ansinnen sei „töricht oder teuflisch — oder beides“ (frei nach Kennedy). Warum konnten die USA Frankreich den Wunsch absprechen, sich selbst zu verteidigen? Eine moralisch triefende rhetorische Frage, die er für seine weitere Argumentation braucht. Er blendet einfach die historischen Tatsachen aus: Die Panzer der Sowjetunion standen an der Elbe — also unmittelbar vor den Toren Frankreichs. Charles de Gaulle sprach in diesem Zusammenhang bewußt von Lion und Hamburg. Er wollte das Europa der Vaterländer — zusammen mit dem „Erbfeind“ Deutschland — als Bollwerk gegen weitere innereuropäische Kriege und die äußere Bedrohung durch den Kommunismus. Demgegenüber stand die nordatlantische Wertegemeinschaft mit dem atomaren Schutzschirm der USA als Alternative.

Der nukleare Schutzschirm

Damit kommen wir zu seiner zweiten These, mit der er Kernwaffen für jeden Staat begründet: Kein Staat würde einen „Atomkrieg“ riskieren, wenn einer seiner Verbündeten durch einen anderen Staat mit Atomwaffen angegriffen würde. Ausgerechnet den deutschen Professor Christian Hacke führt er hierfür als Zeuge an. Ein Typ, die schon mal gerne Donald Trump in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (Wo auch sonst, als im GEZ-Funk?) als „Kotzbrocken, der für die Unterseite der amerikanischen Zivilisation steht“ bezeichnet. Schlimmer noch, diese Lichtgestalt eines deutschen Politologen verbreitet seine kruschen Thesen auch noch international:

Germany is, for the first time since 1949, without nuclear protection provided by the United States, and thus defenseless in an extreme crisis. As such, Germany has no alternative but to rely on itself. A nuclear-armed Germany would be for deterrence only. A nuclear Germany would stabilize NATO and the security of the Western World, but if we cannot persuade our allies then Germany should go it alone.

Kurz und knapp: Wegen der neuerdings unzuverlässigen USA — die staatliche Propaganda des GEZ-Rundfunks zeigt zumindest bei diesem Herrn Früchte — braucht Deutschland eigene Kernwaffen!

Die Politik der USA hat sich bisher nicht verändert: Es sind zahlreiche US-Truppen in Deutschland stationiert. Zusätzlich wurde der Schutzschirm noch bis in die baltischen Staaten ausgedehnt. Dies ist der „Pearl-Harbor-Knopf“ der USA! Putin-Versteher bezeichnen das als Bedrohung Russlands durch die „Nato-Ost-Erweiterung“. Zum Glück ist Putin als KGB-Offizier in der dritten Generation nicht ein solcher Einfaltspinsel. Gleichwohl ist das Säen von Zwietracht ein ewiges Bemühen dieser Organisation und ihrer Helfer im Westen. Wer sich dafür interessiert, dem sei z. B. ein Studium des „NATO-Doppelbeschlusses“ empfohlen. Noch heute kämpft die SED-Nachfolgepartei gegen die Lagerung von US-Atombomben auf deutschem Grund. Sie sollten nach Freigabe durch die USA von Bundeswehrflugzeugen gegen die Sowjetarmee eingesetzt werden können. Nichts weiter, als ein deutliches Argument, daß das Spiel „New York gegen Berlin“ nicht funktioniert. Nukleare Abschreckung ist halt etwas komplexer als mancher Politologe glaubt zu wissen.

Alle Staaten sollen gleich sein

Staaten sind nicht gleich gefährlich. Es ist wie mit Messern, Schusswaffen und allem anderen auch: Es ist z. B. ein Unterschied, ob ein Pfadfinder ein Messer bei sich hat oder ein „männlicher unbegleiteter Migrant“ auf einem Volksfest. Insofern ist es bestenfalls naiv, alle Staaten in einen Topf zu werfen.

Man mag ja noch verstehen, daß in Nord Korea die Kernwaffen letztendlich nur zur Ausbeutung und Unterdrückung des eigenen Volkes durch seinen Diktator dienen sollen: Wenn ihr mir mein Volk wegnehmen wollt, beschmeiß ich euch mit Atombomben. Aber Iran und Israel in einen Topf zu schmeißen, ist schon nicht mehr unverständlich: Israel ist eine Demokratie — Iran ein antisemitisches Mullah-Regime, das immer wieder mit der Auslöschung Israels droht; Israel hat bisher ausschließlich unter großen Opfern lokale Verteidigungskriege führen müssen — Iran führt aus religiösem Antrieb Krieg in Jemen, Irak und Syrien und unterstützt aktiv Terroristen. Man hätte wirklich kein dämlicheres Beispiel für die Befriedung durch frei verfügbare Kernwaffen finden können. Iran ist erst durch sein Streben nach Kernwaffen zum Problem geworden. Mit Rationalität im Zusammenhang mit gläubigen Schiiten sollte man auch nicht zu erwartungsvoll sein: Was soll ein Gleichgewicht des Schreckens jemandem sagen, der davon überzeugt ist, 72 Jungfrauen zu bekommen, wenn er sich selbst in die Luft sprengt?

Libyen, Irak und die Ukraine sind ebenfalls schlechte Beispiele zur Untermauerung der These von „Frieden schaffen durch Kernwaffen“. Libyen und Irak hätten es aus eigener Kraft gar nicht geschafft Kernwaffenstaat zu werden. Dafür haben ihre technischen und finanziellen Möglichkeiten nicht ausgereicht. Die Ukraine hat lediglich die sowjetischen Kernwaffen, die auf ihrem Territorium stationiert waren, an den Nachfolgestaat Rußland zurück gegeben. Der Unterhalt hätte sie nur finanziell aufgefressen. Putin hätte sich von einer Destabilisierung auch durch ein paar olle Raketen nicht abhalten lassen. Auf Grund seiner praktischen Erfahrung als KGB-Offizier in der DDR, kann er einfach kein freies und wirtschaftlich erfolgreiches Land als Leuchtfeuer in seiner Nähe dulden.

Warum uns Kernwaffen friedlich machen sollen

Atomwaffen dienen nicht zur Verteidigung sondern als Strafe“. Wieder so ein markanter Irrtum. „Friedensbewegte“ würden lieber von der drohenden atomaren Apokalypse sprechen. Wieso eigentlich? Hiroshima und Nagasaki sind schon lange wieder belebte Städte. Einzig und allein die Fähigkeit einen Gegner mit Sicherheit auch im Zweitschlag zu vernichten, kann eine Abschreckung auslösen. Aber kann Korea die USA auslöschen oder China Indien? Für eine nukleare Strafaktion wäre es wohl viel zu spät. China und Pakistan haben daher ständig Grenzscharmützel, nur wird hier darüber kaum berichtet. Frieden jedenfalls, sieht anders aus.

Ferner sind Kernwaffen nicht alles. Da ist z. B. eine funktionierende Raketenabwehr, über die im Moment praktisch nur die USA und Israel verfügen. Glaubt jemand ernsthaft daran, daß es (zumindest heute und in naher Zukunft) Korea gelingen würde, eine Interkontinentalrakete zum amerikanischen Festland durchzubringen?

Selbst eine so simple Eigenschaft wie die Fläche eine Landes spielt eine Rolle: Für Breschnew war Deutschland stets ein Problem von drei Wasserstoffbomben. Israel könnte wohl kaum eine aushalten. Dem großen Führer von Nord Korea wäre es wohl egal, ob sein Land in einen Parkplatz umgewandelt würde, solange er in irgendeinem Bunker überleben könnte. Iran ist zwar ziemlich groß, aber seine Führungsclique erstrebt ohnehin einen Platz im eingebildeten Paradies.

Kernkraftwerke und die Bombe

Die abgedroschene Behauptung der Verknüpfung von Kernkraftwerken und nuklearer Aufrüstung ist schlicht weg Unsinn. Der einzige Fall einer Verknüpfung (über die Nutzung von Schwerwasserreaktoren zur Produktion von waffengrädigem Plutonium) war und ist Indien. Die Welt hat daraus gelernt (z. B. „123-Abkommen“ mit den Vereinigten Emiraten). Selbst Korea, Iran und vormals Süd-Afrika haben ein eigenes Waffenprogramm unterhalten. Eher das Gegenteil ist der Fall: Ein paralleles Programm zum Aufbau von friedlicher und militärischer Nutzung ist für die meisten Länder der Welt schlicht zu kostspielig. Auch Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi und Assad konnten nur an der Bombe basteln. Wie wichtig Geld ist, zeigt das Beispiel Vietnam, dort mußte man von dem geplanten Bau von Kernkraftwerken auf Kohlekraftwerke umschwenken. Wären die Theorien von Shellenberger zutreffend, hätte Vietnam alles daran setzen müssen Kernkraftwerke zu bauen, befindet es sich doch in einem latenten Kriegszustand mit China.

Der Brennstoffkreislauf

In der Tat ist der Aufbau eines Brennstoffkreislaufes wesentlich sensibler. Dies betrifft sowohl die Anreicherung von Uran auf Waffenfähigkeit (Pakistan) wie auch die Wiederaufbereitung (Indien). Sowohl die USA (Vereinigte Emirate), wie auch Rußland (Türkei, Ägypten) achten beim Verkauf von Kernkraftwerken durch die Lieferung und Rücknahme des benötigten Brennstoffs auf eine Einschränkung des Kreises.

Umgekehrt kann man nicht den Schluß ziehen, daß jedes Land mit einem Brennstoffkreislauf auch Kernwaffen anstrebt. Paradebeispiel dafür war gerade Deutschland. Wie unverantwortlich und dämlich daher beispielsweise das Politologengeschwafel eines Christian Hacke ist, zeigt bereits Shellenbergers Artikel: Er listet nur drei Staaten (Polen, Ungarn und Finnland) auf, denen er kein Streben nach Kernwaffen unterstellt.

Ebenso sollte man eigentlich denken, daß die Gleichsetzung von Plutonium und Kernwaffen langsam aus der Welt ist. Sehr ungerecht ist in diesem Zusammenhang gerade die Erwähnung von Japan. Japan hat sich für einen geschlossenen Brennstoffkreislauf entschieden. Hat aber bisher seine abgebrannten Brennelemente in Frankreich und GB aufarbeiten lassen. Diese beiden Länder sind die Garanten, daß es sich bei den zitierten 6000 to ausschließlich um Reaktorplutonium und keinesfalls um waffengrädiges Plutonium handelt.

Nachwort

Kernwaffen sind Massenvernichtungswaffen, deren militärischer Nutzen ohnehin eingeschränkt ist — Friedensstifter sind sie keineswegs. Sie gehören genauso geächtet wie Chemiewaffen. Da aber die reale Welt ist wie sie ist, können nur beharrliche Abrüstungsverhandlungen zum Ziel führen. Bis dahin ist konsequent die Weiterverbreitung zu verhindern oder wenigstens zu behindern. Es ist zumindest ein Zeitgewinn.

Was Michael Shellenberger anbetrifft: Man kann ja gerne glauben, daß CO2zur „Klimakatastrophe“ führt. Es ist auch ein lobenswerter Entwicklungsschritt, wenn man zur Erkenntnis gekommen ist, daß man nicht mit Wind und Sonne die Welt mit ausreichend Energie versorgen kann. Insofern sei sein jahrelanger Einsatz für die Nutzung der Kernenergie keinen Millimeter geschmälert. Es ist aber schlichtweg nicht zulässig, wenn man zur „Klimarettung“ Kernwaffen als Friedensstifter glorifiziert.

Übernommen von NULEKLAUS hier