Die eingebildete Katastrophe
Im Jahr 2013 publizierte UNSCEAR, ein Komitee der UNO, das sich um die Wirkun-gen atomarer Strahlungen kümmert, einen Bericht über die Folgen des Unfalls von Fukushima in Japan. Es handelte sich um die bisher umfassendste Evaluation, vorgenommen von zahlreichen Wissenschaftlern, die aus Dutzenden von Ländern stammten – und das Komitee, das seit 1955 existiert, hatte auch die Katastrophe von Tschernobyl untersucht. Es gilt als unabhängig, erfahren und unbestechlich. Was es schreibt, wird gemeinhin als objektiv angesehen.
Fukushima, einst bloss der Name einer Präfektur in Japan, steht heute wohl zu Recht für einen der schlimmsten Störfälle in einem Atom¬kraftwerk, die sich je zugetragen haben: Ausgelöst von einem sehr heftigen Erdbeben, das im März 2011 einen tödlichen Tsunami über die japanische Ostküste krachen liess, kam es im Kernkraftwerk von Fukushima zu schweren Schäden – unter anderem, was noch nie geschehen war, ereigneten sich in drei der sechs Reaktoren Kernschmelzen. Derart verheerende Pannen waren nicht einmal in Tschernobyl zu beobachten gewesen, wo 1986 ein einziger Reaktor explodiert war. Wenn es mit anderen Worten je einen Super-GAU gegeben hat, einen «grössten anzunehmenden Unfall» also, der jede herkömmliche Vorstellungskraft übertraf, dann muss das Fukushima gewesen sein. Doch wie schwer wogen die Folgen? Wie viele Menschen starben, mit wie vielen Krebsopfern muss gerechnet werden, wie verseucht ist die Region auf lange Sicht?
Das UN Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation kam zum Schluss: «Es ist kein einziger Todesfall zu verzeichnen, der auf radioaktive Strahlung zurückzuführen ist – weder unter den betroffenen Arbeitern im AKW noch in der allgemeinen Bevölkerung. Die Dosis an Radioaktivität, welche die Bevölkerung in der Krisenregion zu ertragen hatte, und zwar während des ersten Jahres nach dem Unfall sowie auch geschätzt auf ihr ganzes Leben bezogen, ist allgemein tief oder sehr tief. Dass diese Menschen oder ihre Nachkommen je an Beschwerden erkranken, die durch erhöhte Strahlung nach dem Unfall verursacht worden wären, ist sehr unwahrscheinlich: kein erkennbares erhöhtes Gesundheitsrisiko ist zu erwarten.»
Stunde der falschen Propheten
Real war die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung demnach nie, obwohl die Medien, besonders in Europa, vor allem im deutsch-sprachigen Raum, über kein Risiko ausführlicher und sensationeller berichteten. Die wahre Kata¬strophe dagegen, nämlich das Erdbeben, blieb unterbeleuchtet. Wofür es keinen plausiblen Grund gab. Denn wer in Fukushima starb – und es starben über 18000 Menschen -, erlag samt und sonders den Verwüstungen, die das Erd¬beben und das Hochwasser verursacht hatten. Wenn etwas die Bevölkerung aber belastete, was den Nuklearunfall anbelangte, dann das Reden über dessen mögliche oder eingebildete Auswir¬kungen, wie das UNSCEAR in seinem Bericht feststellte: «Die wichtigsten Folgen berührten eher das mentale oder soziale Wohlergehen der Menschen, was mit dem enormen Ausrnass des Erdbebens, des Tsunami und des Nuklearunfalls zusammenhing. Angst vor Strahlung und die Furcht, stigmatisiert zu werden, beschäftigten die Menschen viel mehr, weil sie das Risiko, ver¬strahlt zu werden, hoch einschätzten. Von Effek¬ten wie Depressionen und posttraumatischen Stresssymptomen wurde bereits berichtet. Doch liegt es ausserhalb der Zuständigkeit und Kompe¬tenz dieses Komitees, die Tragweite und Häufig¬keit dieser psychischen Gesundheitsfolgen zu beurteilen.»
Weil es so grotesk wirkt, ja tragisch ist, möchte ich es hier noch einmal wiederholen: Nicht die tatsächliche Gefahr versehrte die Menschen, sondern das Reden und Schreiben darüber in der Möglichkeitsform. Die Angst. Oder deutlicher ausgedrückt: Die Skandalisierungsindustrie und die eng mit ihr verbundenen politischen Interes-sengruppen, die seit Jahren die Atomkraft dämonisieren, hinterliessen bei den Menschen die einzigen, wirklichen Schäden – und diese waren vorwiegend psychischer Natur. Fukushima fand nur in unseren Köpfen statt.
Nicht die tatsächliche Gefahr versehrte die Menschen, sondern das Reden und Schreiben darüber.
Im gleichen, dreihundertseitigen Bericht hielt das UNSCEAR auch fest, dass selbst die Natur, ob im Meer oder auf dem Land, ob Pflanzen oder Tiere, kaum zu Schaden gekommen war. Auch hier sind die Konsequenzen vernachlässigbar. Das Einzige, was an Negativem einzuräumen ist: Ein Gebiet von der Grösse des Kantons Schaffhausen musste geschlossen und dürfte noch einige Jahre als Sperrbezirk betrachtet werden. 2013 konnten nach wie vor hunderttausend Menschen nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil die Strahlen¬belastung die Grenzwerte überschritt. Dass diese Werte aber wieer abklingen, ist ebenfalls bloss eine Frage der Zeit. In ein paar Jahren können die Menschen wieder dort wohnen, wo sie vorher lebten.
Der Sonderfall
Gewiss, am Ende ist das eine Frage der subjektiven Güterabschätzung: Doch wenn das die Folgen der grössten Nuklearkatastrophe aller Zeiten sind, dann darf man wohl sagen, die Risiken der Kernkraft sind erträglich – zumal jede andere Form der Energieproduktion auch Risiken birgt. In Fukushima ist kein einziger Mensch an Radioaktivität gestorben. Angesichts dieser Scha-densbilanz, die übrigens 2015 vom UNSCEAR und anderen UNO-Gremien abermals bestätigt wurde, erscheinen die Schlüsse, die einige Politiker daraus zogen, umso grotesker. Nirgendwo geschah dies ausgeprägter als in Deutschland und in der Schweiz.
Unter dem Eindruck von Fukushima hat Doris Leuthard eine Energiewende ausgerufen, die nicht zu Ende gedacht war.
Unter dem Eindruck von Fukushima hat die schweizerische Energieministerin Doris Leuthard (CVP) fast über Nacht eine Energiewende ausgerufen und eingeleitet, die nicht nur kaum zu Ende gedacht war, sondern in jeder Hinsicht bizarre Züge trägt. Denn die Begründungen für den grössten planwirtschaftliehen Eingriff der Schweizer Geschichte wechseln von Tag zu Tag. Manches widerspricht sich. Geht es darum, die COz-Emissionen zu reduzieren, um dem Klimawandel vorzubeugen? Oder ist es das Ziel, auf mittlere Sicht aus der Kernkraft auszusteigen? Beides zugleich macht keinen Sinn, beides zugleich ist unmöglich.
Fantastisches Buch
Wer sich über dieses Dilemma und eine Politik informieren möchte, die uns noch lange negativ betreffen dürfte, dem sei ein kleines, feines Buch empfohlen, das in diesen Tagen erschienen ist:
Unter dem Titel «Der 2000-Watt-Irrtum» hat sich Markus Häring, ein promovierter Geologe, den wichtigsten Fragen angenommen, die sich in der aktuellen Energiepolitik stellen.
Ist es technisch und wirtschaftlich realistisch, ist es überhaupt wünschbar, unseren Energie¬verbrauch auf 2000 Watt pro Kopf zu senken?
Wie entscheidend ist der Beitrag des Menschen an die Klimaerwärmung, welches sind die besten Antworten auf diese Herausforderung? Und was unterscheidet das Elektroauto Tesla von einem gemütlichen Deux Chevaux? Häring ist ein hervorragendes Buch gelungen. Anders als die meis¬ten Naturwissenschaftler schreibt Häring klar und verständlich, den Lesern der BaZ ist er seit gerau¬mer Zeit als Kolumnist vertraut. Auch über den Bericht des UNSCEAR, aus dem ich hier zitiert habe, erfuhr ich in seinem Buch. Ohne einen Jargon zu pflegen, der den Laien überfordert, bleibt Häring dennoch präzis genug, um auch den Kenner zu überzeugen. Ebenso – das zeichnet den Naturwissenschaftler ohnehin meistens aus – sind seine Thesen empirisch gut belegt. Dem einen oder anderen Basler dürfte Häring in schlechter Erinnerung sein: Vor Jahren war er der Projektleiter jener Tiefenbohrungen in der Stadt, die man vorwärts trieb in der Hoffnung, Erdwärme für die Stromproduktion nutzbar machen zu können. Stattdessen löste Häring ein kleines Erdbeben aus – dessen Schäden erneut mehr im Psychologisch-Politischen als in realen Rissen in den Wänden zu suchen waren. Obwohl Häring alle Vorschriften eingehalten und im Auftrag eines staatseigenen Betriebes gehandelt hatte, wurde ihm nachher der Prozess gemacht – was ihn schwer kränkte. Immerhin wurde Häring von sämtlichen Anschuldigungen freigesprochen. Nicht zuletzt aus diesem Grund dürfte er in seinem Buch wiederholt betont haben, wie wichtig es ist, Forschung und Entwicklung zu erleichtern statt zu behindern. Freiheit für alle
Natürlich hat er recht. Freiheit der Forschung und die unsichtbare Hand des Marktes werden unsere energiepolitischen Probleme lösen – nicht Verbote, Eingriffe, Lenkungsabgaben oder Subventionen für Energieformen, die sich nicht rentieren, wie sie Leuthards unsinnige Energiewende vorsieht. Nirgendwo wird das deutlicher als in der Frage der Kernkraft. Ohne Not machen wir uns arm und begeben uns des technischen Fortschritts. Längst ist der Schwerpunkt der Forschung und Entwicklung in den Osten gerückt; in China befinden sich derzeit 26 AKW im Bau, unter anderem auch ein Proto¬typ der vierten Generation. Statt mit Brennstäben werden diese sogenannten Kugelhaufenreaktoren mit Uran/Thorium-Kugeln betrieben, die von Graphit umfasst sind. Sollte sich dieses neue AKW bewähren – es wird 2017 probeweise eingeschal¬tet -, sind 19 weitere solche Anlagen geplant. Im Jahr 2040 sollen rund acht Prozent des gesamten Strombedarfs Chinas aus AKW stammen, womit das Land zum weltgrössten Betreiber von Kernkraftwerken wird. Reaktoren der vierten Generation sind effizienter und sicherer, weil Kernschmelzen aus technischen Gründen unmög¬lich sind. Ausserdem hinterlassen sie viel, viel weniger Abfall, nämlich hundert Mal weniger. Schliesslich klingt deren Radioaktivität auch bedeutend rascher ab: Es dauert nicht mehr hunderttausend Jahre, bis sie unschädlich sind, sondern bloss ein paar Hundert Jahre. «Das sind Quantensprünge in der Energiegewinnungs¬technik», schreibt Häring, «welche bei Erfolg sämtliche bisherigen Methoden in den Schatten stellen.»
Kernkraft, das zeigt Häring eindrücklich, ist wohl eine der erstaunlichsten Erfindungen der Menschheit. Es wäre ein Jammer, wenn wir hier in Europa den Anschluss verpassten – bloss weil es uns scheinbar zu gut geht und wir glauben, es uns leisten zu können, mittels planwirtschaftlicher Methoden unseren Energiebedarf zu sichern. Atomkraft hat Zukunft – aber vielleicht findet diese anderswo statt. Deutschland und die Schweiz sind in der ganzen Welt die einzigen Län¬der geblieben, die nach wie vor aus der Kernkraft aussteigen wollen – wegen Fukushima, wo kein einziger Mensch gestorben ist.
Markus O. Häring, Der 2000-Watt-lrrtum. Wie das Drohszenario Klimaerwärmung die gesamte Energiepolitik fehlleitet, Münster-Verlag Basel 2015.
Mit freundlicher Genehmigung der BaslerZeitung, dort eschienen am Samstag, 27. Februar 2016 auf Seite 3